Chancen durch Corona

Eine neue solidarische Lebensweise

Die Coronakrise hat auf politischer und gesellschaftlicher Ebene bisher Undenkbares plötzlich möglich gemacht. Wie können wir diese Dynamik nutzen, um eine gerechtere, demokratischere Gesellschaft zu gestalten? Ulrich Brand und Markus Wissen zeigen auf, was jetzt getan werden muss: für eine zukunftsfähige Gesellschaft, eine solidarische Wirtschaftsweise, mehr Demokratie und ein nachhaltiges Verhältnis zwischen Mensch und Natur.

26.08.2020

Eine neue solidarische Lebensweise | Corona imperiale Lebensweise Gerechtigkeit Gesellschaft

Eher beiläufig spricht Naomi Klein (2020) in der aktuellen Situation von einem »Corona-Kapitalismus«. Der Begriff ist instruktiv. Sie meint damit eine Krisenbearbeitung im Sinne der Wohlhabenden und der naturzerstörerischen Wirtschaftsbranchen. Besonders deutlich werde das an den staatlichen »Rettungspaketen« – und der privaten Gesundheitsindustrie. Durch die neuerlichen Schock-Politiken kommt es wie in früheren Krisen zur dauerhaften Stärkung der ohnehin Mächtigen, die keine Rücksicht auf Gesellschaft und Natur nehmen. Der Begriff des Corona-Kapitalismus bedarf der weiteren Ausarbeitung, doch er zeigt an: Es gibt bei jeder Krise verschiedene Optionen oder Formen, sie zu bearbeiten, die sich auf die kapitalistische Produktions- und Lebensweise auswirken und sie verändern. Das war bisher bei der ökologischen Krise so – in Gestalt des Grünen Kapitalismus – und trifft jetzt auch auf diese Pandemie und mögliche künftige zu.

Die Fragen, die wir im letzten Kapitel unseres Buches »Imperiale Lebensweise« diskutiert haben, haben in der Corona-Krise an Dringlichkeit noch gewonnen: Was kann heute getan werden, damit gesellschaftliches Leben, Arbeit, soziale Institutionen und Infrastrukturen, Demokratie und das Verhältnis zwischen Gesellschaft und Natur dauerhaft zukunftsfähig werden? Wie kann die gesellschaftliche Öffnung, die in der Krise plötzlich bisher Undenkbares möglich macht, genutzt werden, um für eine gerechtere, demokratischere, aber vor allem für eine Gesellschaft zu streiten, die auch künftigen Generationen ein erfülltes Leben auf unserem Planeten ermöglicht?

Solidarische Lebensweise gegen einen autoritär-neoliberalen Corona-Kapitalismus

Wie sähe eine linke Politik der solidarischen Lebensweise in Zeiten der Corona-Krise aus, aber auch gegen einen sich möglicherweise verfestigenden »Corona-Kapitalismus«, in dem die Tendenzen von Ungleichheit, Naturzerstörung und Autoritarismus fortgeschrieben werden? Wie offensiv kann eine solche Politik sein in Zeiten, in denen von allen politischen Akteur*innen weitgehend defensiv gehandelt wird? Trotz aller Unübersichtlichkeit: Kritisches Nachdenken und linke Strategien sollten, so das Institute for Critical Social Analysis & Friends der Rosa-Luxemburg-Stiftung (2020: 11-12), »diese Gelegenheit nutzen, aber auch eine Perspektive hervorheben, diskutieren und organisieren, die noch weiter reicht. Es geht nicht um ein entweder/oder, um einen voluntaristischen ›Hauptgewinn‹ oder pragmatischen kleinsten Nenner. Stattdessen werden Praktiken des Widerstands und konkrete Einstiegsprojekte mit strategischen Perspektiven vereint«. Die verschiedenen Krisenmomente werden sich sehr unterschiedlich miteinander artikulieren und die Art und Weise ist schwer vorherzusagen. Und es gilt an Erfahrungen anzuknüpfen, die sich in den Protestbewegungen und alternativen Praxen der letzten Jahre herausgebildet haben.[1]

Verknüpfungen herzustellen findet unter Bedingungen großer Unsicherheit statt. Christoph Görg plädiert angesichts der tiefen Krise der gesellschaftlichen Naturverhältnisse daher für einen »neuen Umgang mit Unsicherheiten« und gleichzeitig für offensive transformatorische Politik: »Die Herausforderung besteht vielmehr genau darin: die Notwendigkeit einer großen Transformation des kapitalistischen Wohlstandsmodells gerade mit den Gefahren zu begründen, die der Versuch einer Kontrolle der Naturverhältnisse mit den Strategien der Naturbeherrschung ausgelöst hat« (Görg 2020: 1f.). Es gehe nicht um mehr Sicherheit, sondern darum, mit den Ursachen der Pandemie und ihrer Bedrohlichkeit reflektiert umzugehen, »gerade weil man das Virus nicht völlig kontrollieren kann« (ebd.). Das ist ein wichtiger Anknüpfungspunkt für linke Politik.

Dabei gilt es auf fest verankerte, aber offensichtliche Absurditäten kapitalistischer Produktion hinzuweisen, die in ein anderes Licht gerückt werden könnten. Die Publizistin Kathrin Hartmann (2020) nennt eine dieser Absurditäten des kapitalistischen Weltmarkts, die nun mit der Krise der globalen Lieferketten deutlich wird: Obwohl Deutschland sich zu 90% selbst mit Lebensmitteln versorgen könnte, ist das Land der weltweit drittgrößte Importeuer von landwirtschaftlichen Produkten und Nahrungsmitteln. Der Grund liegt darin, dass die Landwirtschaft in Deutschland stark darauf ausgerichtet ist, Fleisch und Milchprodukte zu produzieren und zu exportieren.

Die Corona-Krise gewinnt auch daraus eine spezifische Dynamik, dass die imperiale Lebensweise von der Bewegung für Klimagerechtigkeit politisiert wurde und nun teilweise darüber diskutiert wird, inwiefern aktuelle Politiken auch in Bezug auf die Klimakrise umgesetzt werden müssen. Ein Beispiel ist die breite öffentliche Forderung, Rettungspakete für die Luftverkehrs- und Automobilindustrie an soziale und ökologische Kriterien zu binden.

Politische Initiativen für eine sozial-ökologische Transformation

Damit sind wir bei einem zweiten Bereich neben der kritischen Aufarbeitung, jenem der politischen Initiativen. Angesichts der bestehenden wirtschaftlichen und politischen Herrschaftsstrukturen bedarf es vielfältiger Vorschläge und Initiativen, um die anstehenden Entscheidungen allein im Sinne der Vermögenden und Mächtigen zu verhindern und Potenziale für eine sozial-ökologische Transformation zu stärken.

Aktuell dringende Maßnahmen sind etwa die Erhöhung des Kurzarbeiter*innengeldes für einkommensschwache Schichten, Stundung von Mieten, Stopp von Zwangsräumungen und Stromsperren, Zulagen für gesundheitsgefährdende Berufe. Falls der aktuelle Notstand der sozialen Distanzierung überwunden wird, stellt sich die Frage, inwiefern die vielen Zusatzarbeiten, die insbesondere von Frauen und unbezahlt erbracht werden, wieder zurückgenommen werden können.

Neben der baldigen Aufhebung der Einschränkung von Grundrechten wie dem der Versammlungsfreiheit geht es darüber hinaus um eine »Demokratieoffensive«. Damit können die ergriffenen Notstandsmaßnahmen in ihrer Tragweite reflektiert und umgekehrt, angemessene Entscheidungsverfahren für künftige derartige Krisensituationen geschaffen sowie eine demokratische Sozial- und Gesellschaftspolitik forciert werden (ebd.: 19). Der Organisation des Gesundheitssektors käme dabei, das hat jüngst Mike Davis (2020: 14) betont, eine Schlüsselrolle zu: »Seit der Occupy-Bewegung stand der Kampf gegen Einkommens- und Vermögensungleichheiten für Sozialisten an erster Stelle: das ist sicher eine große Errungenschaft. Aber jetzt müssen wir den nächsten Schritt gehen und für Vergesellschaftung und die Demokratisierung von wirtschaftlicher Macht einstehen, wobei das Gesundheitswesen und die Pharmaindustrie die ersten Ziele sind.«

Eine zentrale Aufgabe der Linken wird es sein, eine neuerliche Austeritätspolitik zu verhindern. Diese zeichnet sich teilweise schon ab, etwa dort, wo Kommunen überlegen, notwendige Investitionen zurückzustellen. Attac Österreich (2020) beispielsweise setzt die Forderung nach einem »Corona-Lastenausgleich« dagegen: Vermögen ab 5 Millionen Euro soll mit 10% einmalig besteuert werden, Vermögen ab 100 Millionen Euro mit 30% und Vermögen ab einer Milliarde Euro mit 60%. Damit könnten 70 bis 80 Milliarden Euro zusätzlich generiert werden, es würde damit auch Ungleichheit reduziert und die Finanzmärkte zumindest etwas stabilisiert. Gerade für Länder wie Deutschland und Österreich mit einer sehr starken Vermögenskonzentration ist das ein plausibler Vorschlag.

Weltweite Solidarität statt Imperialer Lebensweise

Linke Politik ist internationalistische Politik im Sinne einer Solidarität, die auch für die Verbesserung der Lebensverhältnisse von Menschen in anderen Ländern und Weltregionen einsteht. Aktuell wird deutlich, wie ungleich Menschen im globalen Maßstab von der Krise betroffen sind. Viel mehr Menschen leben nach Jahrhunderten der kolonialen Enteignung unter prekären Bedingungen und geraten bei fehlendem Erwerbseinkommen rasch in existenzielle Nöte. Gesundheit ist nicht einfach die Abwesenheit von Krankheiten wie Infektionen, sondern ein gesellschaftlicher Zustand, der Bedingungen für ein angstfreies, materiell sorgenfreies und auskömmliches Leben schafft, ohne dass dieses vom Einkommen abhängt. Insbesondere in Ländern des Globalen Südens sind öffentliche Infrastrukturen noch schwächer als hierzulande. Daher sind die Streichung der Auslandsschulden und die Abkehr von Freihandelspolitiken wichtige Voraussetzungen eigenständigerer Entwicklungen.

Es sind also dringend finanzielle und politische Initiativen geboten, die nicht nur die negativen Auswirkungen der Corona-Krise in Ländern des Globalen Südens eindämmen. Es geht immer wieder und auch jetzt um ein Neu-Denken der wirtschaftlichen und politischen Weltordnung im Hinblick auf die Zurückdrängung der imperialen Lebensweise und die Realisierung globaler sozialer Rechte. Dafür gilt es die unterschiedlichen Krisenerfahrungen, aber auch die vielfältigen praktizierten Alternativen einer solidarischen Lebensweise anzuerkennen. [2]

Schließlich geht es um mögliche oder sich bereits anbahnende Allianzen zwischen linken parteipolitischen und Bewegungsakteur*innen, Gewerkschaften und Verbänden, progressiven Menschen in der Wissenschaft, in der öffentlichen Verwaltung und im Management, um Alternativen politisch durchzusetzen. Inwiefern sich ein Corona-Kapitalismus verfestigt, wird neben guten Analysen insbesondere von Initiativen und Auseinandersetzungen abhängen, denen Eingriffe in die dominanten gesellschaftlichen Diskurse und Machtverhältnisse gelingen.

 

[1] Luci Cavallero und Verónica Gago (2020) sprechen von einer kollektiven Agenda, die insbesondere an feministische Kämpfe der letzten Jahre anschließt und nun zur gemeinsamen Ressource werden kann: Die feministischen Streiks, die Forderung nach Neuverhandlung öffentlicher und privater Verschuldung, die Kämpfe gegen häusliche Gewalt und Feminizide, die in der Quarantäne zunehmen. Dazu kommen Auseinandersetzungen um das (Un-)Sichtbarmachen bestimmter Formen von Arbeit und sozialer Reproduktion. Der Plattformkapitalismus wird »trotz seines Vertrauens auf die Metaphysik von Algorithmen und GPS letztlich von konkreten Körpern getragen. … Diese, in der Regel migrantischen, Körper sind diejenigen, die die verlassenen Städte durchqueren, und die – durch ihre Exponiertheit – die Versorgung und den Rückzug vieler Menschen ermöglichen«.

[2] Vgl. beispielhaft etwa Kothari u.a. 2019.

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Die Autoren 

Ulrich Brand ist Professor für Internationale Politik an der Universität Wien und hat jüngst mit dem Buch »Die Imperiale Lebensweise« (gemeinsam mit Markus Wissen) die SPIEGEL-Bestsellerliste erobert.

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Markus Wissen lehrt als Professor für Gesellschaftswissenschaften an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin und beschäftigt sich in seiner Forschung mit dem Zusammenhang von Globalisierung und Krisen, Umwelt-, Klima- und ...

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