Zum Tod von Frithjof Bergmann

Neue Arbeit: Tun, was wirklich wichtig ist

Tätigkeit kann dem Menschen Kraft und Sinn geben und seine Entwicklung fördern – um diese Wirkung geht es bei der Neuen Arbeit. Doch wie kann eine Ökonomie entstehen, die dazu führt, dass die Bürger ihre Arbeit selbst erfinden und ihrer Fantasie folgen, anstatt den Befehlen eines anderen? Von Frithjof Bergmann. Der Begründer der New-Work-Bewegung, starb am 23. Mai im Alter von 91 Jahren. Im Gedenken an ihn veröffentlichen wir hier seinen Artikel aus der politischen ökologie 125.

29.05.2021

Neue Arbeit: Tun, was wirklich wichtig ist | Arbeit nachhaltiges Arbeiten Arbeitszeitmodelle Wirtschaft Philosophie

Wir brauchen eine grundsätzlich anders geartete Wirtschaft, denn die jetzige verschleudert im Galopp die Ressourcen und zwingt uns dazu, die Überbleibsel unserer ausgebeuteten Kultur in das Feuer zu werfen, das ihren Kessel unter Hochdruck hält. In dieser Wirtschaft sitzen alle hinter einer oder einer anderen Art von Gitterstäben. Bei vielen ist der Käfig ihr Job, bei einer noch größeren Anzahl ist es der Umstand, dass sie keinen Job haben.

Die heutigen Verheerungen haben erstaunlicherweise eine gemeinsame Ursache in dem massenhaften Wegschmelzen von Arbeitsplätzen. Um diesen Mangel irgendwie zu beheben, peitschen wir die Wirtschaft zu immer weiterem Wachstum an, verhunzen dabei die Natur und erhitzen die Erde. Wir brauchen eine neue Wirtschaft, die nicht nur die Symptome kuriert, sondern uns von dem übermächtigen Druck, Arbeitsplätze zu schaffen, befreit. Darüber herrscht wohl Einigkeit. Aber dann sträubt das igelhafte „Wie?“ seine Stacheln.

Eine erste mögliche Antwort ist der Hinweis auf die Flut von erstaunlichen, in jüngster Zeit erfundenen Technologien. Deren intelligente Anwendung könnte in der Tat eine grundlegend anders funktionierende Wirtschaft ermöglichen. [1] Die Bandbreite der Beispiele reicht von ganz erdverbundenen Innovationen wie den Food-Häusern, in denen große Teile der Ernährung mit geothermalen Heizungs- und Kühlungsanlagen zum Reifen gebracht werden, bis hin zu der schnell wachsenden Familie der Fabrikatoren, die kaum ein Körnchen Abfall hinterlassen – im krassen Unterschied zu der bislang gängigen, Rohstoffe verschlingenden Massenherstellung. [2]

Die Fabrik in Schlafzimmergröße

Doch wie kann sich eine andere Ökonomie nicht nur in grünen Nischen, sondern großflächig entwickeln und als Gesamtsystem funktionieren? Um diese Frage zu beantworten, braucht es Fantasie.

Besuchen wir beispielsweise eine unserer kolossalen Fabriken: Gehen wir am Fließband entlang, wird klar, dass diese monströsen, aneinander gereihten Maschinen etwas Unintelligentes, Ineffizientes, Veraltetes an sich haben. Warum ein gigantisches Roboterding, das nur ein Rädchen dreht, und direkt daneben wieder ein eben so großes Geschmeiß, das auch wieder nur ein einziges Schräubchen schraubt?

Schon Kinder wissen, wie unerhört viele Funktionen in einem Handy zusammen untergebracht sind. Warum diese Fließbandmaschinen nicht ineinander schachteln und statt der kilometerlangen Schlange einen einzigen Roboter hinstellen, der im Nu 500 Handgriffe hintereinander macht? Die normale Fabrik könnte ein Hundertstel so groß sein wie sie jetzt ist, sie würde in ein Schlafzimmer hineinpassen.

Das Großartige an dieser Fantasie ist, dass sie genügt, um uns den ersten Hauch einer Idee zu geben: Es muss nicht alles unbedingt andauernd noch größer werden. Die entgegengesetzte Richtung, eine sich immer stärker verbreitende Anwendung unserer fabelhaften Kapazität für Miniaturisierung, öffnet einen Türspalt zu einer radikal anderen Wirtschaft.

Unsere tiefsitzende Überzeugung, dass die groß angelegte, zentralistische Massenherstellung eine alles vor sich hertreibende Macht besitzt, ist völlig falsch. Die dezentrale Herstellung am Ort, nicht in gigantischen Fabriken, sondern in kleinen Räumen, ist nicht nur idyllischer und grüner, sondern auch unvergleichlich effizienter und deshalb wettbewerbstüchtiger.

Summiert man die Kosten für unsere stümperhaften Versuche, den Arbeitsplatzmangel durch Wirtschaftswachstum zu verringern, wird einem schwarz vor Augen. Die Unterstützungs- und Verwaltungskosten nebst den Kosten für Maßnahmen, die immer seltener zu Jobs führen, sind nur der Anfang. Was das siechende System auf seinem Krankenbett weiter peppelt, sind Konjunkturpakete, Steuersenkungen und Subventionen für Konzerne sowie das ganze Paket von Gesetzgebungen und Regelungen, die den Standort für Unternehmen anziehend machen sollen.

Die entscheidende Weichenstellung hin zu einer Neuen Wirtschaft wäre im Vergleich zu den zig Billiarden, die für vermeintliche Job-Schaffung vergeudet werden, spottbillig: Man müsste nur in vielen Dörfern, Märkten und Stadtteilen Community-Produktionsräume einrichten, die den Menschen vor Ort Zugang zu befreienden Technologien ermöglicht. Von viel tiefergehender Bedeutung ist es, dass diese Richtungsänderung uns von dem Wahnsinn des Wirtschaftswachstums befreien würde, weil dessen Hauptantrieb – der vom Mangel an Arbeitsplätzen ausgehende Druck – wegfiele.

Das Vermehren dieser neuen Wirtschaft, ich nenne sie konzentrische Grundökonomie, ähnelt deutlich dem Jahrtausende alten Urprinzip des Bauerntums, nur das zu kaufen, was man nicht selber erzeugen kann. Der Unterschied besteht im zur Verfügung stehenden Technologieniveau: Statt Butter und Käse kann man jetzt mithilfe der Fabrikatoren Elektrizität, Kühlschränke und Ersatzteile für Autos selber machen. Ein Beispiel dafür, wie die Idee der konzentrischen Grundökonomie den Bereich der Ernährung prägt, ist die vertikale Agrikultur, die frappierend sparsam fast ohne Grund und Boden auskommt, weil das Gemüse in aufeinander gestapelten Behältern wächst.

Das Selbermachen hilft nicht nur in den ärgsten Slums von Afrika, Indien oder Südamerika, sondern auch in den industrialisierten Ländern. Einige wenige wirklich brillante Leuchtturmprojekte würden genügen, um einen rapiden Denkprozess über die Alternativen zu Massenherstellung und -konsum auszulösen. Diese Entwicklung wird mit interessanten Etappen einhergehen.

In einem frühen Stadium könnte es eine städtische Nachbarschaft beispielsweise schaffen, selbst Nahrung und Elektrizität zu produzieren. Schon dieser Anfang könnte Änderungen in der Mentalität, in der politischen Weltanschauung zur Folge haben: Die Abhängigkeit von Jobs würde nicht mehr mit derselben tyrannischen Absolutheit erlebt, und vielleicht würde man sich sogar gegen die erpresserischen Konjunkturpakete stärker wehren: Weil eine Alternative zur klassischen Erwerbsarbeit sichtbar geworden ist, würden Arbeitsplätze etwas von ihrer totalitären Allmacht einbüßen.

Mit ein wenig Fantasie lässt sich die Größenordnung und die Gewaltigkeit erahnen, die solche und ähnliche Verschiebungen mit sich bringen können, wenn immer mehr Menschen die Community-Produktion und den diese ermöglichenden Lebensstil aufgreifen würden. Wenn durch die konzentrische Grundökonomie eine wesentlich andere und neue Form der Arbeit entsteht – die des Herstellens in der Community –, dann wird sich die „Jobmonomanie“ lindern; Kaufen und Verkaufen nehmen wieder einen erträglichen Raum ein.

Heute strampeln die Waren der Massenproduktion mit allen Gliedern, weil sie zwangsweise Aufmerksamkeit auf sich ziehen müssen, um zu ihrem Verkauf und damit zu Jobs zu führen. Wenn Arbeit auf andere Art getan wird, dann können die Produkte wieder elegant, einfach und nützlich sein, und das wird das Stadtbild sehr verändern. Auf den Plätzen wird es statt der Läden eine kunterbunte Vielfalt von geräumigen Community-Hallen geben, die fürs Herstellen, aber auch fürs Diskutieren und fürs gemeinsame Tanzen und Spielen und natürlich Musizieren benützt werden.

Mussarbeit radikal verkürzen

Eine Großzahl von Menschen empfindet das alltägliche Erlebnis der Arbeit –, wegen der Beschleunigung, des Drucks, der andauernden Überwachung, des Zwangs und wegen der täglich steigenden Gefahr eines Burnout – als scheußlich. Die Qualität der Arbeit in der konzentrischen Grundökonomie ist das leuchtende Gegenteil dieser Quälerei. Schon weil sie so kurz sein wird: Wegen der unvergleichlich klügeren Effizienz und dem Wegfallen von ganzen Gebirgen der Verschwendung – man denke nur an die lächerlichen Automodenschauen – würden sechs Stunden pro Woche genügen, um alles, was man für ein modernes erfüllendes Leben braucht, mit Leichtigkeit herzustellen.

Von großer Bedeutung ist außerdem die Tatsache, dass man durch diese Tätigkeit nicht zum Ruin, sondern zur Befreiung der Menschen beiträgt und »Arbeit« in dieser Ökonomie aus dem Reich der Notwendigkeiten herausholt. Auch deshalb wäre sie nichts mehr, was man erleidet, sondern eine Vorbereitung, ein Üben und ein Lernen wie beim Sport oder bei der Musik. Weil die Grundökonomie die sogenannte Mussarbeit so radikal reduziert, wird genügend Zeit für »Neue Arbeit« frei, das heißt, für Arbeit, die man wirklich und mit aller Kraft tun will.

Alternativlos anders

Gipfelabenteuer, Safaris, schnelle Autos – viele von den Kuriositäten unseres aktuellen Lebensstils werden von der Sehnsucht nach dem wirklichen Leben angetrieben. Dabei gibt es nur einen Ausweg, wenn man gut leben will: Arbeit, die wir wirklich tun wollen.

Das heißt aber nicht, dass wir nur noch das tun, worauf wir gerade Lust haben. Unterhosen müssen wir trotzdem noch waschen. Die Neue Arbeit ist das Gegenteil von der »alten«, weil sie uns nicht geistig erschöpft, sondern uns Kraft gibt und Sinn schenkt. Sie hebt auf die positive Wirkung von Arbeit ab, die Menschen stärkt und seine körperliche, seelische und geistige Entwicklung fördert. Von solch einer Arbeit wünscht man sich keinen Urlaub. Indem Menschen ihre Arbeit selbst erfinden und schaffen, und nicht den Befehlen eines anderen gehorchen, sondern der eigenen Fantasie folgen, kehren sie den Abhängigkeiten der alten abstumpfenden Arbeit den Rücken.

Auf den Punkt gebracht: Um der Mehrheit der Menschen dazu zu verhelfen, dass diese Arbeit, die sie wirklich wollen, auch tun, braucht es zwei Voraussetzungen: eine konzentrische Grundökonomie und eine Neue Kultur, in der die Stärkung der Menschen die Hauptaufgabe ist, vom Kindergarten hin bis zum begleiteten Sterben. Die Vorstellung von einer menschlicheren, intelligenteren und sogar fröhlicheren Zukunft mag himmelschreiend unglaubwürdig klingen, aber die Alternative ist, dass uns die »Alte Arbeit« weiter in den Untergang hineinsaugt, wenn wir sie nicht umkrempeln können.


Anmerkungen

1 Beispiele liefert die jährlich stattfindende Ausstellung Ars Electronica in Linz.

2 Fabrikatoren sind Geräte der Zukunft, die vergleichbar einem Drucker, der in drei Dimensionen arbeitet, Schicht für Schicht aus Metall oder Kunststoffstaub Gegenstände aufbauen.

Im Gedenken an Frithjof Bergmann

Frithjof Bergmann wurde 1930 in Weickelsdorf im heutigen Sachsen-Anhalt geboren. Er wanderte mit 19 Jahren in die USA aus und studierte Philosophie. Als Philosophieprofessor lehrte er in Princeton, Stanford, Chicago, Berkeley und Ann Arbor. 1984 gründete er das erste Zentrum für Neue Arbeit in Flint, Michigan. Später beriet er Institutionen und Regierungen zur Zukunft der Arbeit und leitete Projekte mit Jugendlichen und Obdachlosen.

Bergmann starb am 23. Mai 2021 in Ann Arbor, Michigan. In Gedenken an ihn, haben wir seinen Artikel »Neue Arbeit: Tun, was wirklich wichtig ist« hier veröffentlicht, der ursprünglich 2011 in politische ökologie 125 »Anders arbeiten« erschien, und bieten den gesamten Band vorübergehend als kostenlosen Download an.

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