Plastikwirtschaft

Das richtige Material für den richtigen Zweck

Plastik ist beliebt, denn es besitzt viele praktische Eigenschaften. In allen Bereichen völlig darauf zu verzichten ist daher nicht unbedingt sinnvoll – Kunststoffe sollten stattdessen zielgerichtet eingesetzt und nicht für Einwegprodukte verschwendet werden. Deshalb brauchen wir eine Strategie zum Umgang mit Plastik, fordern die politische ökologie-Autoren Joachim H. Spangenberg und Christoph Lauwigi. Die Prioritäten sind klar: vermeiden, wiederverwenden, recyceln, verwerten, beseitigen.

21.07.2020

Das richtige Material für den richtigen Zweck | Plastik Verpackung Plastikmüll Ressourcen

Deutschland im Frühjahr 2020: Das öffentliche Leben ist fast zum Stillstand gekommen, aber vor Restaurants, Cafés und Gaststätten stehen die Menschen in langen Schlangen, immer im Corona-Abstand von 1,5 Metern. Sie stehen nicht hier, weil ihnen Onlinebestellungen und Lieferdienste fremd wären – es geht um die Solidarität mit kleinen Gewerbetreibenden, darum, lokale Geschäfte zu retten, die unter dem Druck der globalen Onlinefirmen zusammenzubrechen drohen und die für eine lebenswerte Stadt unverzichtbar sind. Deshalb kamen sie in Scharen und holten das Essen in To-go-Verpackungen.

In der Folge stiegen die Plastikabfallmengen, aus gebrauchten Schutzmasken wie aus Einwegverpackungen. Auch der Kunststoffmüll, der in Privathaushalten anfällt, hat enorm zugenommen. Doch nicht nur die Mengen sind problematisch, hinzukommen die kunststoffspezifischen Probleme: So migrieren Zuschlagstoffe, die in der Kunststoffproduktion verwendet werden, in Lebensmittel und können die Gesundheit der Konsumierenden beeinflussen. Bei den Verpackungen für den Außer-Haus-Verzehr ist dies besonders problematisch, da hohe Temperaturen die Mobilisierung von Zuschlagstoffen fördern.

Was ist hier passiert? Hat die Wegwerfmentalität der To-go-Kultur endgültig über »Jute statt Plastik« gesiegt? Ist das gesellschaftliche Problembewusstsein in Auflösung begriffen? Wohl eher nicht. Die Erklärung für den sichtbaren Wandel ist eher trivial: Aus Sicht der Gewerbetreibenden waren die Einwegverpackungen die einzig mögliche, weil schnell und ohne zusätzlichen Aufwand verfügbare Wahl, aus Sicht der Kund(inn)en vielleicht nur die zweitbeste, aber unvermeidlich. Für die Bemühungen um eine Kreislaufwirtschaft sowie unter Nachhaltigkeitsaspekten ist diese kurzfristige Entscheidung jedoch nach hinten losgegangen, denn sie hat zu einem weiteren Anstieg der Mengen an Verpackungsabfällen geführt. (1)

Das wäre wohl nicht passiert, wenn bereits vor der Corona-Krise hygienische und preiswerte Mehrwegsysteme bekannt, etabliert und weithin akzeptiert gewesen wären. Die hätten nicht ausschließlich aus Glas, Porzellan oder Metall bestehen müssen – auch im Bereich des Außer-Haus-Verzehrs können Behälter aus Kunststoff eine Rolle spielen. Nur müssten sie dazu ohne die Lebensmittel belastende Zuschlagstoffe auskommen, langlebig, wiederverwendbar, robust und kreislauffähig sein. Dann können solche Behältnisse die positiven Eigenschaften der Materialien nutzen, ohne die negativen Begleiterscheinungen zuzulassen. Doch von beidem, umweltverträglichen Mehrwegsystemen wie ökologisch und gesundheitlich optimiertem Kunststoffeinsatz, sind wir offensichtlich Lichtjahre entfernt, die Entfernung wächst mit jedem Jahr – oft mangels Alternativen, nicht nur in Krisenzeiten.

Marker für die Missstände des Wirtschaftssystems

Die Corona-Krise hat wie mit einem Brennglas die Schwachstellen unseres Wirtschafts- und Gesellschaftssystems aufgezeigt, seien es die miserablen Arbeitsbedingungen in der Lebensmittelindustrie, vom Schlachthof bis zur Spargelernte, oder die erbärmliche Bezahlung der essenziellen Berufsgruppen wie Verkäufer(in), Krankenschwester und -pfleger, Kindergärtner(in), Kraftfahrer(in). Investmentbanker(innen) tauchten nie in dieser Liste auf. Die aktuelle Krise macht also Probleme besonders sichtbar, die es bereits vorher gab, wie in unserem Fall die umfassende »Plastifizierung« der Wirtschaft, also die Abhängigkeit der Wegwerfgesellschaft von (Plastik-)Einwegverpackungen. So sind Kunststoffe inzwischen ein Marker für die Missstände des Wirtschaftssystems geworden.

Das Problem der Einwegverpackungen aus Kunststoff ist archetypisch für unseren Umgang mit Plastik: 40 Prozent aller Plastikprodukte sind weniger als einen Monat in Gebrauch. Wie massiv diese Verschwendung von Material und Energie ist, wird erst vorstellbar, wenn man daran denkt, dass bei Fortsetzung der gegenwärtigen Trends die Plastikproduktion im Jahr 2050 mit circa 56 Milliarden Tonnen CO2 zehn bis 13 Prozent des deutschen CO2-Budgets in Anspruch nehmen würde. Aber schon heute belasten die weiteren Auswirkungen auf die Umwelt durch die nicht funktionierende Kreislaufführung dieser Materialien Mensch und Umwelt in hohem Maße.

Kunststoffe sind die Leitsubstanz des Wirtschaftswachstums. Zum einen wegen der Kosten, denn ihr Ausgangsmaterial, das Rohöl, war lange Zeit billig. Zum anderen weil sie durch Zuschlagstoffe aller Art fast jede gewünschte Eigenschaft von hart bis weich, von isolierend bis leitend, von Lichtschutz bis transparent annehmen und durch moderne Verarbeitungsverfahren in fast jede gewünschte Form gebracht werden können. In der Produktion gut automatisierbar, und in den Eigenschaften programmierbar, zum Beispiel auf Biegsamkeit, Härte oder Säurebeständigkeit (bis hin zur vorzeitigen Obsoleszenz), macht Plastik in allen Bereichen der Wirtschaft Karriere. 8,3 Milliarden Tonnen wurden weltweit bis 2015 produziert, sechs Milliarden davon landeten im Müll – auch in Bächen, Flüssen und schließlich in den Meeren.

Ein weiterer Treiber der Plastikflut war und ist die Globalisierung von Wirtschaft und Handel. Globalisierung wurde durch drei Innovationen möglich: durch globale Kommunikation, die Erfindung der Container und durch (Plastik-)Verpackungen. Je länger die Lieferwege, desto mehr sind Hersteller und Händlerinnen auf Verpackungen wie Styropor, Folien, Füll- und Dämmstoffe angewiesen, damit die Waren unversehrt ihr Ziel erreichen. Globale Lieferketten sind ohne Kunststoffverpackungen nicht möglich, ohne Plastik keine Verpackungsindustrie und ohne Verpackung kein Welthandel, wie die wachsenden Mengen an Industrieverpackungen zeigen. So ist das Aufkommen an Gewerbeabfällen, das einen wesentlichen Anteil des gesamten Abfallaufkommens darstellt, eng mit der Konjunktur verknüpft: je mehr Produktion und damit – im Lande des »Exportweltmeisters« – Außenhandel, desto mehr Verpackungsmüll, der nach letzten Analysen auch nach der Sortierung noch zu circa 20 Prozent aus Kunststoffen besteht. (2) Auch die Online-Einkäufe, die in den letzten Monaten coronabedingt massiv gestiegen sind, sind nur äußerlich Pappkameraden – die meisten Innenverpackungen sind aus Plastik.

Insofern bietet die aktuelle Forderung, durch eine Re-Regionalisierung zu kürzeren und damit robusteren Lieferketten zu kommen, eine Chance zur Plastikvermeidung. Je kürzer die Lieferkette, desto weniger Verpackung wird benötigt. Die in der Pandemie stark gestiegenen Umsätze von Wochenmärkten haben das eindrücklich illustriert. Eine weitere Chance von verkürzten Lieferketten liegt in der Vermeidung von Produkten, die niemand wirklich braucht, sondern eher zur Befriedigung eines vorgeschobenen Kaufbedürfnisses dienen. Diese politische Gestaltungsoption hat in der jetzigen Situation große Erfolgsaussichten.

Recyceln, kompostieren und andere Illusionen

Recycling ist, wenn ein Stoff noch eine Warteschleife über der Abfallhalde dreht. Produkte sind, wenn man so will, eine Zwischennutzungsform in einem Produktionssystem, das im Wesentlichen Wertstoffe in Abfälle umwandelt. Dabei werden die stofflichen Zusammensetzungen so weit an diese Zwischennutzung angepasst, dass Weiterverwertung und Recycling nahezu unmöglich werden. Wollte man Plastik hochwertig in den Produktionskreislauf zurückführen, müsste man die Fraktionen sortenrein trennen – und das hieße nicht nur nach Stoffklassen, denn ausschlaggebend für die Stoffeigenschaften sind die genauen Polymerstrukturen der Kunststoffmoleküle. Die aber variieren von Hersteller zu Herstellerin und je nach den beigemischten Stoffen, die für die gewünschten Eigenschaften sorgen. Mehr als 1.000 verschiedene Materialien müssten separat recycelt werden, wollte man jedes Plastikteil nach Benutzung in einen »sauberen« Stoffkreislauf zurückführen – eine technische wie ökonomische Unmöglichkeit. Die Folge: Von den 2,6 Milliarden Tonnen Plastik, die weltweit noch in Gebrauch sind, gelten nur 100 Millionen Tonnen, also 1,6 Prozent, als rezyklierbar. (3) Auch deswegen nutzen Hersteller(innen) lieber neuwertigen Kunststoff für ihre Produkte als ein nicht reines und deshalb oft minderwertiges Rezyklat. Das gilt besonders im Lebensmittelsektor, weil hier aufgrund rechtlicher Vorgaben die Reinheit von Verpackungskunststoffen höher sein muss als die in anderen Branchen.

Hinzu kommt, dass die Hersteller den Aufwand scheuen, ihr altes Plastik zu sortieren und aufzuarbeiten – dafür ist Neumaterial einfach zu billig. Wird der Rohstoff nicht teurer oder mengenmäßig begrenzt, bleibt die Kreislaufwirtschaft bei Plastik eine Nischenerscheinung. Die Unwirtschaftlichkeit und die technischen Hindernisse zeigen, dass Recycling alleine nicht die Lösung der Plastikkrise sein kann. Vielmehr müssen wir weniger Plastik produzieren und verbrauchen, wenn wir die von den Polen bis zur Tiefsee allgegenwärtige Verschmutzung mit (Mikro-)Plastik beenden wollen.

An dieser Stelle hilft auch die Diskussion um abbaubare und/oder biobasierte Kunststoffe nicht weiter. Die biologische Abbaubarkeit von Kunststoffen, ganz gleich ob bio- oder fossil basiert, ist zudem fragwürdig. Als »abbaubar« gekennzeichnete Produkte sind das zwar im Labor, unter den in der Realität gegebenen Bedingungen findet der Abbau jedoch nicht in dem Maße statt, wie er von den Herstellern versprochen wird und von den Kund(inn)en gewünscht ist.

Am richtigen Ort zum richtigen Zweck

Für jedes Produkt gilt: Lebenszeit ist Nutzungszeit plus Abfallzeit, wobei die Nutzung die Wieder- und Weiterverwertung sowie das Recycling einschließt. Wenn die Option, die Abfallzeit durch biologische Abbaubarkeit zu verkürzen, fragwürdig ist, und die Option noch kürzerer Lebenszeiten eine unverantwortliche Ressourcenverschwendung darstellt, die wir uns gerade in Zeiten der Dekarbonisierung der Wirtschaft nicht leisten können, dann bleibt nur eines: die Verlängerung der Nutzungszeit. Wäre das das Ende der Kunststoffe? Mitnichten, aber es würde eine »Neuerfindung« der Branche erfordern. Die Zeichen dafür stehen leider nicht allzu gut, wenn aktuell seitens der Wirtschaftsverbände eine Rücknahme des Verbots von Einwegplastiktüten gefordert wird.

Kunststoffe sind keine per se schlechten Materialien; sie haben Eigenschaften, die gerade im Hinblick auf die Transformation sehr hilfreich sein können. Sogar Problemkunststoffe wie PVC können am richtigen Ort zum richtigen Zweck hilfreich sein, sei es für unterirdische Wasserleitungen, um die immensen Verluste aus maroden Kanälen zu beenden, oder als Fensterrahmen für Doppelt- und Dreifachverglasungen, die Nullenergie-Haussanierungen mit ermöglichen. In beiden Fällen wirkt die Haltbarkeit des Materials positiv, mit geschätzten Produktnutzungszeiten von 80 Jahren – derselbe Kunststoff hat dagegen in Einwegprodukten nichts zu suchen. Es geht also nicht darum, Kunststoffe per se zu verteufeln und für einen völligen Verzicht darauf zu werben. Wichtig ist vielmehr, dass das richtige Material für das richtige Produkt zum richtigen Zweck eingesetzt wird und nicht wie heute fossile Rohstoffe und langlebige Materialien für kurzlebige Anwendungen verschwendet werden.

Wenn aber Plastik das richtige Material für ein Produkt sein kann, bleibt immer noch die Frage offen, welches das richtige Produkt ist, und vor allem was der »richtige Zweck« ist, für den es produziert wird. Solange das ausschließlich der Betriebsgewinn ist, wird die Plastikwelle wohl weiterrollen – will man eine nachhaltige Wirtschaftsweise, muss man den Einsatzbereich dieser Materialgruppe ebenso überdenken wie die eingesetzte Menge und den Einsatzzweck.

Primat der privaten Gewinne einschränken

Wenn »Design for Sustainability« ernsthaft zur Problemlösung beitragen soll – wie es die EU-Kommission, die der Ökodesign-Richtlinie eine wichtige Rolle für die von ihr gewünschte Kreislaufwirtschaft zuspricht, hofft –, dann muss das Primat der privaten Gewinne über die öffentlichen Kosten durch politische Interventionen eingeschränkt werden. Nur dann wird es gelingen, die Massenproduktion von Plastik, den damit verbundenen Rohstoff- und Energieverbrauch, die Abfallberge und Inseln aus Plastikmüll und nicht zuletzt auch die Gesundheitsbelastungen auf ein soziales und umweltverträgliches Maß zu begrenzen. Eine international abgestimmte nachhaltige Stoffpolitik muss den gesamten Kreislauf von chemischen Stoffen und den daraus hergestellten Produkten im Blick haben – vom Abbau der Rohstoffe bis zur Wiederverwertung und Entsorgung. Was wir brauchen (nicht nur beim Plastik), ist ein ökologisch und sozial verträgliches Stoffstrommanagement mit klaren Prioritäten: vermeiden, wiederverwenden, recyceln, verwerten, beseitigen – und zwar in genau dieser Reihenfolge. Die ist zwar seit dem Abfallgesetz von 1996 und der Verpackungsverordnung von 1991 geltende Rechtslage in Deutschland, aber ein ernsthafter Versuch, die genannte Hierarchie durchzusetzen, wurde noch nie unternommen. Nur Details wurden geregelt, die Strukturen aber nicht umgebaut.

Nachhaltiges Stoffstrommangement und klare Prioritäten

Die aktuelle Situation erfordert ein Umdenken in allen Lebensbereichen, nicht nur um Klimakrise und Artentod zu bremsen, sondern auch, damit Materialien und ihre Anwendung nach sozialen und ökologischen Nachhaltigkeitskriterien ausgewählt werden. Hierfür reichen keine inkrementellen Verbesserungen. Wir brauchen grundsätzliche sozialökologische Innovationen bei gleichzeitigem Abschaffen (Exnovation) nicht nachhaltiger Prozesse und Strukturen. Ein Teil dieses Umdenkens wird auch beinhalten, das richtige Material für den richtigen Zweck zu verwenden. Und gerade der Zweck sollte nicht an seiner ökonomischen Rentabilität, sondern an seinem sozialökologischen Transformationspotenzial bewertet und gemessen werden, auch und gerade jetzt, wo interessierte Wirtschaftskreise die Rückkehr in die ökologische Steinzeit fordern.

Eine zukunftsfähige Wirtschaft, die auf sozialökonomischen Prinzipien beruht, wäre in Krisensituationen wesentlich resilienter, Gleiches gilt auch für die Gesellschaft. Deshalb lohnt es sich herauszustellen, dass die Pandemie aufzeigt, welche Missstände die derzeitige Art zu wirtschaften hervorgebracht hat – einschließlich der unreflektierten Besessenheit vom Ziel eines grenzenlosen Wirtschaftswachstums. Die Menschheit muss nicht nur Energie und Ressourcen effizienter nutzen, sondern auch geschlossene Stoffkreisläufe anstreben und den Verbrauch von Chemikalien und Produkten senken. Das wird für viele Produkte einen Neuanfang bedeuten, für einige auch das Aus. Deshalb braucht es politische Gestaltung – etwas das jede(r) von uns als Wähler(in) von den Kandidat(inn)en der nächsten Wahlen einfordern kann. Die durch die Eindämmungsmaßnahmen rund um das Coronavirus entstandene Krise hat gezeigt, dass radikale Veränderungen in Wirtschaftsabläufen und Konsumverhalten möglich sind. Einige der Veränderungen sollten bleiben, wie der Einkauf auf Wochenmärkten mit kurzen Lieferketten und mit wesentlich weniger Verpackungen. Viele andere, wie der Anstieg der Einweg-to-go-Verpackungen, sollten schnellstens als das behandelt werden, das sie sind: Ein Zeichen für nicht zeitgemäßes Wirtschaften und eine Verkennung vorhandener, nachhaltiger Alternativen. Die Möglichkeit, dass Staat und Konsument(inn)en Veränderungen (gemeinsam) bewirken können, hat sich gezeigt. Nutzen wir sie.

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