»Das Wunder von Mals« vor Gericht
Eine Landwirtschaft ganz ohne chemisch-synthetischen Pestizideinsatz? Dies hat sich die Gemeinde Mals in Südtirol zum Ziel gesetzt – auch wenn sie sich damit den Interessen der Südtiroler Landesregierung, des Bauernbunds und der Agrarindustrie entgegenstellt. Unser Autor Alexander Schiebel hat über diesen Kampf gegen Pestizide ein Buch geschrieben: In »Das Wunder von Mals« erzählt er die Geschichte der Malser Vorkämpfer*innen, die sich für eine zukunftsfähige Landwirtschaft einsetzen, obwohl ihnen fortwährend Steine in den Weg gelegt werden.
Sein Buch wurde ein Erfolg – doch nicht allen gefiel seine Berichterstattung. Der Südtiroler Landesrat für Landwirtschaft zeigte ihn 2017 wegen übler Nachrede an. Und nicht nur ihn: Auch oekom-Verleger Jacob Radloff drohte ein Gerichtsverfahren, weil er das Buch herausgegeben hat. Kritische Stimmen gegenüber der Agrarindustrie sollten so zum Schweigen gebracht werden.
Das Gericht in Italien entschied schließlich für die Angeklagten: Das Verfahren gegen Jacob Radloff wurde im Oktober 2020 aus Mangel an Beweisen eingestellt, Alexander Schiebel wenige Monate später im Mai 2021 freigesprochen – der Tatbestand der üblen Nachrede liege nicht vor.
Alle Antworten auf die wichtigsten Fragen zum Prozess lesen Sie in unseren FAQ.
Details zum Prozessgeschehen finden Sie in den Meldungen unter »Aktuelle Entwicklungen«.
Wer ist von wem angeklagt?
Im September 2017 erstattete Arnold Schuler, der stellvertretende Südtiroler Landeshauptmann und Landesrat für Landwirtschaft, Anzeige gegen Alexander Schiebel, Filmemacher und Autor des Buches »Das Wunder von Mals«. Er zeigte auch oekom-Verleger Jacob Radloff an, der das Buch publizierte. 1.601 Personen, hauptsächlich Landwirt*innen aus Südtirol, schlossen sich der Anzeige an. Der Vorwurf lautet üble Nachrede zum Schaden der Südtiroler Landwirtschaft und bezieht sich auf Textpassagen in »Das Wunder von Mals«, in der Schiebel den Pestizideinsatz in Südtirol und das Verhalten von Bauernlobby und Landesregierung kritisiert.
Ermittlungen und Klageerhebung
Nach fast drei Jahren Ermittlungen erhob die Staatswanwaltschaft Bozen Anklage gegen Schiebel. Sein erster Prozesstag war für Januar 2021 angesetzt, musste aber aufgrund eines Todesfalls verschoben werden. Beim Folgetermin am 28. Mai 2021 wurde Alexander Schiebel nach kurzem Prozess freigesprochen, da der Tatbestand der üblen Nachrede in seinem Buch nicht vorliege.
Im Fall von Jacob Radloff beantragte die Staatsanwaltschaft, die Ermittlungen einzustellen. Nachdem Landesrat Schuler und eine Vielzahl von Landwirt*innen Widerspruch dagegen eingelegt hatten, entschied das Landesgericht Bozen im Oktober 2020, das Strafverfahren aus Mangel an Beweisen einzustellen und keine Anklage zu erheben.
Nicht nur oekom betroffen
Nicht nur oekom und sein Autor sind von Klagen betroffen: Auch der Agrarreferent des Umweltinstituts München, Karl Bär, das sich für eine ökologische Landwirtschaft einsetzt und sich seit Jahren mit dem hohen Pestizideinsatz in Südtirol auseinandersetzt, musste sich vor Gericht verantworten. Er wurde schließlich am Ende des 2-jährigen Prozesses im Mai 2022 freigesprochen. Auch die Ermittlungen gegen einige Vorstandsmitglieder des Instituts wurden – wie im Fall Radloff – im Oktober 2020 eingestellt.
Worum geht es in dem Prozess?
Anlass der Anzeigen gegen Alexander Schiebel (wie auch gegen das Umweltinstitut München) war dessen Kritik am massiven Pestizideinsatz, der in den Südtiroler Apfelplantagen allgegenwärtig ist: In der Provinz wachsen auf mehr als 18.000 Hektar Anbaufläche Äpfel. Rund zehn Prozent der insgesamt in Europa geernteten Äpfel stammen von dort. Teilweise wird in den Apfelplantagen mehr als 20 Mal im Jahr gespritzt. Unter den Giften leiden Artenvielfalt und Menschen.
Landrat Schuler und die klagendenden Landwirt*innen sehen in Schiebels Berichterstattung üble Nachrede zum Schaden der Südtiroler Landwirtschaft und der Provinz. Eine Textpassage des Buches wird in der Anzeige besonders hervorgehoben (>> Download der Textpassage).
Angriff auf die Meinungsfreiheit
Alexander Schiebel und Jacob Radloff (sowie auch das Umweltinstitut München) werden in dem Gerichtsverfahren von den beiden italienischen Anwält*innen Nicola Canestrini und Francesca Cancellaro vertreten, die sich auch der Fälle von Kapitänin Carola Rackete und der Crew des Seenotretter-Schiffs Juventa angenommen haben. Aus ihrer Sicht geht es in den Mals-Prozessen in allen Fällen um die Ausübung des Grundrechts auf Meinungsfreiheit.
Dieses Recht wird auf höchster rechtlicher Ebene garantiert durch Artikel 21 der italienischen Verfassung (»Jedermann hat das Recht, die eigenen Gedanken durch Wort, Schrift und jedes andere Mittel der Verbreitung frei zu äußern.«), Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention und gleichlautend Artikel 11 der EU-Grundrechtecharta (»Jede Person hat das Recht auf freie Meinungsäußerung. Dieses Recht schließt die Meinungsfreiheit und die Freiheit ein, Informationen und Ideen ohne behördliche Eingriffe und ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen zu empfangen und weiterzugeben.«).
Die italienische Rechtsprechung zu Verleumdung gibt der Meinungsfreiheit gewisse Grenzen. Insbesondere muss Kritik einen sachlichen Hintergrund haben, um nicht verleumderisch zu sein. Das Buch »Das Wunder von Mals« hat diese Grenze nicht übertreten: Das Thema ist relevant und von hohem öffentlichen Interesse, das Problem existiert wirklich, die Kritik ist sachlich nicht falsch und in der Form angemessen.
Was droht den Angeklagten?
Obwohl die Vorwürfe haltlos sind, droht allen Betroffenen im Falle einer Verurteilung nicht nur eine Haft- oder Geldstrafe, sondern auch der finanzielle Ruin durch Schadenersatzforderungen von jeweils mehr als 1.000 Nebenkläger*innen. Im Extremfall könnten sogar weitere Südtiroler Landwirt*innen »immateriellen Schaden« geltend machen und Schadensersatz einfordern. Zudem kommen auf die Betroffenen hohe Anwalts- und Prozesskosten zu.
Selbst wenn die Verfahren in Freisprüchen enden: Das Vorgehen von Landesrat Schuler und der Obstwirtschaft schreckt Menschen in und außerhalb Südtirols davon ab, von ihrem Recht auf Meinungsfreiheit Gebrauch zu machen. Denn die Prozesse zeigen: Wer eine unbequeme Meinung äußert, muss mit einer Anzeige rechnen und braucht viel Zeit und Geld für ein Gerichtsverfahren.
Zu den Personen
Alexander Schiebel
• wurde 1966 in Wien geboren und wuchs in Salzburg auf. Er ist verheiratet und hat sechs Kinder.
• arbeitete von 1993 bis 2012 in den Bereichen Software-Entwicklung und Online-Marketing und wurde zu einem der Internet-Pioniere Österreichs.
• begann 2015 eine zweite Karriere als Filmemacher und Sachbuchautor und baute dabei unter anderem den Dokumentarfilmblog »suedtirolerzaehlt« auf.
• betreibt den Webvideo-Kanal über »Das Wunder von Mals«. Hieraus entstand der Dokumentarfilm »Leben ohne Ackergifte« (WDR/arte 2017) sowie das Buch (2017) und der Kinofilm (2018) mit dem Titel »Das Wunder von Mals«.
Jacob Radloff
• wurde 1966 in Starnberg geboren. Er ist verheiratet und hat vier Kinder.
• begründete 1987 die Zeitschrift politische ökologie.
• gründete 1989 den oekom verlag, dessen Geschäftsführer er bis heute ist.
• Initiierte 1999 die oekom research AG, eine unabhängige Ratingagentur für nachhaltiges Investment, deren Gründungsvorstand und späterer Aufsichtsratsvorsitzender er bis zur Fusion mit dem US-amerikanischen Anbieter ISS im Jahre 2018 war.
• Er ist weiterhin seit 2005 Vorsitzender des Vereins für ökologische Kommunikation e. V. und Geschäftsführer der 2018 gegründeten oekom stiftung finanzwende gGmbH.
• Hat für sein Engagement zahlreiche Auszeichnungen erhalten, u. a. 2009 den Binding-Preis für Natur und Umweltstiftung sowie 2012 den BAUM-Umweltpreis in der Kategorie Medien und wurde 2015 zum Senior-Fellow von Ashoka, dem bedeutendsten internationalen Netzwerk von Social Entrepreneurs, ernannt.
Downloads & Pressekontakt
Downloads:
- Pressemappe mit allen Hintergrundinformationen >>
- Statement von Jacob Radloff bei der Gerichtsverhandlung am 22.10.2020 >>
- Begründung zur Einstellung des Verfahrens gegen Jacob Radloff >>
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