Natur und Gesellschaft

Die Erzählung vom Anthropozän: Mensch macht Epoche

Noch ist offen, ob das Anthropozän als neue erdgeschichtliche Epoche von der Internationalen Union der geologischen Wissenschaften offiziell anerkannt wird. Doch längst ist der Begriff Teil des Diskurses darüber, wie sich das Verhältnis von Natur und Gesellschaft so austarieren lässt, dass Menschen die planetaren Grenzen endlich respektieren. Von Barbara Unmüßig.

14.04.2021

Die Erzählung vom Anthropozän: Mensch macht Epoche | Anthropozän Klimawandel Erderwärmung Mensch/Natur-Interaktion Geologie Geoengineering CO2-Emissionen

Ohne Zweifel: der Mensch ist zu einem der wichtigsten Einflussfaktoren des Planeten geworden. Kein Winkel der Erde bleibt von den menschlichen Eingriffen ins Erdsystem verschont. Dreiviertel der eisfreien Erdoberfläche sind von Menschen in irgendeiner Weise beeinflusst. Verschiedene Landnutzungen zerstören großflächig Ökosysteme. Das Klima und der Stickstoffkreislauf haben sich für immer verändert. Bei der Versauerung der Ozeane stehen wir kurz davor, die natürliche Grenze zu überschreiten.

Es entstehen irreversible Schäden, die die Bewohnbarkeit der Erde maßgeblich verändern, wenn nicht sogar einschränken. Die Menschheit ist zu einer »Naturgewalt« geworden. Die Klimakatastrophe ist der mächtigste Ausdruck davon.

Tipp: Sie können den Artikel auch anhören in Folge 18 des oekom podcasts, vorgelesen von der Autorin Barbara Unmüßig selbst.

Wir rotten Tiere und Pflanzenarten aus, überfischen und vermüllen die Meere und beuten natürliche Rohstoffreserven aus. Wir holzen tropische Wälder ab, legen Monokulturen an und überdüngen Böden und Gewässer. Für die Lagerung von Atommüll verlangt Paragraf 1 des deutschen Standortauswahlgesetzes die „bestmögliche Sicherheit von einer Million Jahre“. Das sind für heute lebende Menschen schier unvorstellbare Zeitdimensionen.

Allgegenwärtig: Die zerstörerischen Spuren des Menschen

Wie tief die menschlichen Eingriffe sind, symbolisieren auch vier Flohkrebse, die 2014 im Marianengraben in 6.000 bis 7.000 Meter Tiefe entdeckt wurden. Bei einem der Tiere wiesen sie im Körper den Kunststoff Polyethylenterephthalat (PET) nach, der unter anderem zur Herstellung von Trinkflaschen, Folien und Textilfasern verwendet wird. Die Wissenschaftler*innen tauften die neue Spezies Eurythenesplasticus. Plastik war an einem der unzugänglichsten Orte des Globus angekommen. Durch Zoonosen ausgelöste Pandemien sind der jüngste Beleg dafür, wie Menschen Ökosysteme transformieren und auch Menschenleben bedrohen.

Geologische Epochen lassen sich im Gestein und Sediment nachweisen. Spuren des Menschen und der industrialisierten Gesellschaften finden sich heute überall und werden auch in Tausenden von Jahren Zeugnis unseres Wirkens sein: Spuren der mannigfachen Atomtests, des Plastiks, und Betons, von Aluminium und Kohlenstoffverbindungen aus der Verbrennung fossiler Energieträger.

Die International Commission on Stratigraphy, die größte und älteste Einheit in der Internationalen Union der geologischen Wissenschaften, hat eine Arbeitsgruppe eingesetzt, deren Aufgabe es ist, zu definieren, ob die menschlichen Eingriffe eine neue Epoche markieren, die das Holozän offiziell ablösen soll. Diese Anthropocene Working Group hat mit großer Mehrheit genau das vorgeschlagen und empfiehlt als Beginn des Anthropozäns das Jahr 1950 – der Start der zahlreichen Atombombentests und des großflächigen Einsatzes von Stickstoff und Dünger.

Die Festlegung des Anfangs der neuen Epoche auf diesen Zeitpunkt ist umstritten. Sollte er nicht besser auf den Start der industriellen Revolution datiert werden? Noch 2021 soll die Internationale Union der geologischen Wissenschaften den Vorschlag zur Beratung erhalten.

Neues Natur-Mensch-Verhältnis oder Technofixes?

Die Belege dafür, dass der Mensch ein epochaler geologischer Faktor ist, sind erdrückend. Das Anthropozän erscheint attraktiv als Erzählung. Es sensibilisiert dafür, dass der Mensch eindeutig der Urheber der Umweltkrisen ist: Wenn dies nun zum Ausgangspunkt dafür würde, dass wir endlich eine radikale Trendwende einleiteten und eine radikale ökologische und soziale Transformation unserer Produktions- und Konsummuster stattfände, wäre das Narrativ des Anthropozän sehr sinnstiftend.

Einer der Erfinder des Begriffs, der kürzlich verstorbene Nobelpreisträger Paul Crutzen, hatte vermutlich genau das im Sinn: sensibilisieren, warnen und zur Trendumkehr auffordern. Er wollte auch auf diese Weise zum schnellen politischen und wirtschaftlichen Handeln motivieren. In seinem Beitrag »Geology of Mankind« aus dem Jahr 2002 in der Zeitschrift Nature hat er sich in seiner tiefen Sorge um die globale Katastrophe dann allerdings sogar für groß angelegte Geo-Engineering-Projekte, zum Beispiel zur »Optimierung« des Klimas ausgesprochen. Später hat er in einem Interview zwar noch für deren Erforschung plädiert, aber sich klar von einer Anwendung distanziert.

Wachstumskritik in den Blick nehmen!

„Mit der These vom Anthropozän ist die Dialektik der Naturbeherrschung in eine neue Phase eingetreten: Zwar hat sich die Menschheit die Erde „untertan” gemacht, aber sie ist immer weniger in der Lage, ihre Naturverhältnisse zu kontrollieren“ – damit umreißt Christoph Görg in einem GAIA-Artikel die offene Frage, ob das Anthropozän zu einer grundlegenden Neudefinition des Mensch-Naturverhältnisses und des Wirtschaftens führt oder der epochenmachende Mensch mit neuen Allmachtfantasien und großmaßstäblichen Technologien wie Geoengineering die Kontrolle zu behalten versucht.

Jenseits der geowissenschaftlichen Debatte ist der Begriff Anthropozän längst Auslöser für soziologische, philosophische, kulturelle und politische Debatten geworden: über den Platz der Menschen in der Natur, über Ursachen und Verantwortung für unser Wirtschaften über die planetaren Grenzen hinaus und über die Schritte, die jetzt angesichts multipler Krisen eingeschlagen werden müssen.

Doch der Begriff Anthropozän erklärt Macht- und Ungleichverhältnisse noch nicht. Für die transformative Praxis sind sie aber ein zentraler Schlüssel. Wo liegen die Ursachen für diese Eingriffe ins Erdsystem? Ein undifferenziertes „Wir“ hilft da nicht weiter. Das Anthropozän als rein geowissenschaftlicher Begriff verdeckt beziehungsweise nivelliert unsere Verantwortung für die Zerstörung der Natur. Es sind eben nicht alle Menschen, die den Planeten ruinieren, sondern globale ökonomische Eliten und globale Mittelklassen, die über die Verhältnisse und auf Kosten anderer leben, emittieren, konsumieren, verbrauchen und vermüllen.

Die Wurzeln der multiplem Krisen müssen ins Blickfeld geraten. Deshalb muss das Anthropozän auch die Kritik am endlosen Wirtschaftswachstum und an der kapitalistischen Produktion in den Blick nehmen. Besser noch: das Wirtschaften und soziale Leben so denken, dass wir in den planetarischen Grenzen bleiben.

Eine ambivalente Erzählung

Noch ist nicht klar, welche Deutungen der Anthropozän-Erzählung die Oberhand gewinnen werden. Umkehr und Demut oder der Mensch mit einer Fülle kritischer Technologien im Zentrum? – Haben wir wirklich verstanden, dass die Erde endlich ist, dass die Natur zurückschlägt und nicht mehr mitspielt und Menschen die Ursache dafür sind, dass unser Platz im Kosmos nicht mehr als gesichert gilt? Diese Einsicht wäre wirklich epochal.

Die Erzählung vom Anthropozän kann aber auch eine ganz andere Richtung einschlagen: Die Erkenntnis, dass der Mensch den Planeten nachhaltig prägt, wird als eine großartige Gelegenheit für den menschlichen Einfallsreichtum, den Weg zu einem »guten« Anthropozän gesehen. Wenn wir die Erde nachhaltig beeinflussen, können wir diese Macht auch zu unseren Gunsten nutzen. Technooptimist*innen verschiedenster Couleur designen Natur und Menschen neu, etwa durch Eingriffe ins Erbgut von Menschen, Tieren und Pflanzen. Das wäre eine fatale Wendung der Erzählung, ein Irrweg.

Irrweg Geoengineering

Ein solcher Irrweg ist auch das sogenannte Geoengineering. Damit ist das Manipulieren des Klimasystems unserer Erde mit großmaßstäblichen Technologien gemeint, um so der Klimakatstrophe zu entkommen. Einige Protagonisten des Geoengineerings nutzen zum Beispiel längst das Anthropozän als Bezug und Begründungsrahmen.

Geoengineering umfasst viele Technologien, sie alle bedienen den Techno-Optimismus, dass wir mit ihnen aus der Klimakrise kommen, ohne Umdenken oder (Selbst-)Begrenzung. Am weitesten auf dem Vormarsch sind Vorschläge, Kohlendioxid (CO2) chemisch aus der Atmosphäre zu filtern und unterirdisch zu speichern – Direct Air Capture mit Carbon Capture Storage (CCS).

Außerdem gibt es Vorschläge, das Filtern und Speichern des CO2 auch großen Bioenergie-Monokulturplantagen zu überlassen: Bioenergy with Carbon Capture and Storage (BECCS). Mit dieser Technologie soll die natürliche Fähigkeit von schnell wachsenden Pflanzen CO2 zu speichern, auf technische Weise genutzt werden. Biomasse wird durch Verbrennung in Bioenergie umgewandelt. Das dabei freiwerdende CO2 soll chemisch in Schornsteinen gelöst werden, um es dann später unterirdisch zu speichern.

Andere Vorschläge der Geoengineerer sind, Algen im Meer im großen Stil zu düngen, um mehr Biomasse wachsen zu lassen, die CO2 aus der Luft speichern kann. Oder mit Partikeln die Effekte eines Vulkanausbruchs in der Atmosphäre zu simulieren oder Wolkenkonstellationen künstlich aufzuhellen, um das Sonnenlicht zu reflektieren und so den Klimawandel aufzuhalten.

Doch diese Technologien haben nicht nur eine mehr als zweifelhafte Wirkung auf das Klima, sondern bringen auch gravierende Risiken und Nebenwirkungen mit sich: Sie verschlimmern bestehende Umweltkrisen und schaffen neue Zielkonflikte, auch sozialer Natur. Globale Land- und Wasserkonflikte würden verschärft, die Phosphor- und Stickstoffkreisläufe durch Dünger weiter belastet, mehr Biodiversität unwiederbringlich zerstört, die Versauerung der Meere vorangetrieben. Eine nachhaltige Antwort auf den Klimawandel sieht anders aus.

Demokratie, Einsicht und Verantwortung

Das Anthropozän ist mehr als ein Begriff und mehr als eine mögliche geologische Epoche. Es kann ein altbekanntes Weltbild – der Mensch als Maßstab aller Dinge, der sich über die Natur erhebt, sie gestaltet und beherrscht – erneuern, aber auch den Glauben an Technofixes verstärken.

Wie der Mensch auf die Natur einwirkt, ist aber nicht »naturgegeben«, kein Automatismus, sondern durch das gesellschaftliche Mensch-Natur-Verhältnis bestimmt, das heißt durch das Ergebnis von Produktions- und Konsummustern, von Machtverhältnissen, die wir selbst wählen und damit auch verändern können. Und dass es auch anders geht, zeigen andere Gesellschaften und Zeitalter.

Deshalb ist die Auseinandersetzung um das Anthropozän längst auch Teil eines Diskurses, wie sich politische, soziale und kulturelle Verhältnisse ändern müssen, wenn das Anthropozän nicht direkt in ein Armageddon führen soll. Der Diskurs um das Anthropozän darf nicht entpolitisieren und muss Fragen von Maßhalten, Weniger ist Mehr, Macht, Verantwortung und Teilhabe einschließen. Zukunft und Freiheit, ein gutes Leben für alle gibt es nur, wenn wir die Fehler der Vergangenheit korrigieren.

Um die Erderwärmung aufzuhalten, müssen wir vor allem darüber reden, wie wir weniger Schaden verursachen, Ökosysteme erhalten oder renaturieren und bis 2050 aus den fossilen Energien ausgestiegen sind. Das geht, indem wir uns endgültig von fossiler Energie sowie industrieller Landwirtschaft und Tierhaltung verabschieden und unsere Mobilität revolutionieren. Wir müssen als Menschen wieder anerkennen, dass wir Teil des Ökosystems Erde sind und die natürlichen planetaren Grenzen genauso respektieren wie die fundamentalen Rechte von Mensch und Natur – und uns nicht der Illusion hingeben, dass wir uns über sie erheben können.

Dieser Artikel von Barbara Unmüßig erscheint demnächst in unserer Zeitschrift politische ökologie. Zudem können Sie den Text in oekom podcast Folge 18 anhören, gelesen von der Autorin.

Beitrag aus 

Vom Anthropozän und seinen Folgen

Leben wir in einer neuen erdgeschichtlichen Epoche - dem Anthropozän? Fest steht, dass wir die Natur meist rücksichtslos nach unseren Bedürfnissen nutzen und formen: Exorbitante Stickstoffeinträge, ...   

Barbara Unmüßig, geb. 1956, ist Politologin und seit 2002 Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung. Sie ist Mitgründerin des Deutschen Instituts für Menschenrechte (DIMR) und gründete 1990 die Organisation Weltwirtschaft, Ökologie und Entwicklung e.

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