Nützlinge

Klein, aber oho – Warum wir Insekten dringend brauchen

Was ist eigentlich so schlimm am Insektensterben – wäre die Welt ohne Mücken im Schlafzimmer und Ameisen auf der Picknickdecke nicht viel schöner? Die Antwort: Ohne Insekten würde unser Ökosystem nicht existieren und unser menschliches Leben wäre nicht möglich. Andreas Segerer und Eva Rosenkranz geben einen Überblick über die Systemrelevanz der Insektenwelt.

05.10.2020

Klein, aber oho – Warum wir Insekten dringend brauchen | Insektensterben Artenvielfalt

Eher eine Minderheit von Insekten hat ein positives Image, allen voran die Honigbiene. Auch Schmetterlinge werden in der Regel wohlwollend wahrgenommen, weil sie (meistens) harmlos sind und durch ihre Leichtigkeit und die bunten Farben begeistern.

Ganz unabhängig von unserem subjektiven Eindruck haben Insekten einen objektiv entscheidenden Anteil am Funktionieren der Natur: Insekten spielen aufgrund ihres Artenreichtums, ihrer schieren Masse und ihrer vielfältigen Spezialisierungen tragende Rollen in vielen Ökosystemen der Erde. Sie besetzen zahlreiche, fundamentale Schlüsselpositionen und sind daher systemrelevant, und zwar als:

...Bestäuber

Rund 90 Prozent der Blütenpflanzen sind auf Bestäubung durch Insekten angewiesen; nur wenige andere Tiere, wie zum Beispiel einige Vögel und sogar Säugetiere treten als Bestäuber in Erscheinung. Die intime Beziehung zwischen Insekten und Blütenpflanzen ist das Ergebnis von Millionen Jahren gemeinsamer Evolution, in der sich wechselseitige Abhängigkeiten herausgebildet haben; mitunter ist sie so spezifisch, dass eine bestimmte Pflanzenart auf Bestäubung durch ein bestimmtes Insekt angewiesen ist.

Bestäubung durch Insekten ist ein Geschäft zu beiderseitigem Nutzen. Die Pflanzen sichern sich die Fortpflanzung und die Insekten erhalten im Gegenzug Nahrung: Pollen als Quelle von Proteinen und Nektar als Quelle von Kohlehydraten.

...Nahrungsquelle

Insekten sind nahrhaft. Ein Millionenheer von kleineren und größeren Tieren hat es daher auf sie abgesehen: Spinnen und andere Gliederfüßer, Fische, Amphibien, Reptilien, Fische, Singvögel, Kleinsäuger, Fledermäuse, selbst große Tiere wie Ameisenbär, Primaten und durchaus auch der Mensch. Vor allem sind es aber auch Insekten selbst, die ihren Verwandten nachstellen, sei es als Räuber (z. B. Libellen), als Parasiten, die ihre Wirte schwächen (aber nicht töten), oder als Parasitoide (z. B. Schlupfwespen), die am Ende ihrer Entwicklung den Wirt töten. Es gibt sogar Schlupfwespen, die in Schlupfwespen parasitieren, die in anderen Insekten parasitieren (Hyperparasitismus). In der Natur herrscht ein ausgewogenes Gleichgewicht zwischen den Organismen, welches das Verhältnis der Arten zueinander reguliert.

Insekten übernehmen dabei eine tragende Rolle in den Nahrungsnetzen: Durch ihre Vielfalt und Masse sind sie Futter für viele Kleintiere, von denen wiederum größere Tiere leben, bis hin zu den Enden des verwobenen Ganzen, wo sich unter anderem auch der Mensch befindet. Fallen Insekten als Nahrungsquelle aus, wirkt das wie ein Dominoeffekt bis in die feinsten Bereiche des Nahrungsnetzes zurück; es wird von der Basis her löchrig, anfällig für Störungen und kann sogar reißen, was den Kollaps des Ökosystems bedeuten würde. Dieses Geschehen kann mit einer Pyramide von Konservendosen verglichen werden, die im Supermarkt aufgestapelt ist; fängt ein Schelm an, ganz unten eine Dose nach der anderen herauszunehmen, dauert es nicht lange, bis die Pyramide teilweise oder, wenn es dumm läuft, sogar ganz in sich zusammenstürzt. Nichts anderes droht in der Natur, wenn eine Art nach der anderen ausstirbt – trifft es die entscheidenden Leistungsträger (die wir bis heute noch nicht einmal vollständig benennen können!), bricht alles zusammen.

... Recycler und Regulierer (von Energie- und Nährstoffflüssen)

Insekten sind an vorderster Front an der Beseitigung und Mineralisierung von Tierkadavern beteiligt. Ein totes Tier, auf dem Fliegenmaden und Käfer wimmeln, ist kein schöner Anblick, aber: Sie gehören zu den wenigen Organismen, die Enzyme wie Kollagenasen und Keratinasen besitzen und dadurch in der Lage sind, Aas zu fressen, zu verflüssigen und es für Mikroorganismen aufzuschließen.

Auf diese Weise verschwindet der Kadaver um ein Vielfaches schneller, als wenn Pilze und Mikroorganismen alleine die Arbeit erledigen müssten. Auch Federn, Haare, Hautschuppen und Wolle werden von darauf spezialisierten Insekten recycelt, zum Beispiel von der Kleidermotte. Andere Arten befreien uns von Kot und wandeln ihn in proteinreiche Biomasse um; allein in den USA wird der Wert der Arbeitsleistung von Dungkäfern auf 2 Milliarden USD/Jahr geschätzt.[1] Auch Nahrungsabfälle unserer Zivilisation werden bevorzugt von Insekten aufgeräumt, und so wird die Massenvermehrung von Ratten, Tauben und anderen Tieren, die aus unserer Sicht Schädlinge sind, verhindert.

Mehr lesen: Was sind die Ursachen für das Insektensterben?

Schließlich spielen Insekten bei der Beseitigung von abgestorbenen Pflanzen einschließlich Totholz eine wichtige Rolle. Spezialisierte Pioniere besiedeln frisch abgestorbenes Holz, lösen Rinde, bohren Gänge und erschließen dadurch den Holzkörper für die Besiedlung durch weitere Insekten und andere Organismen. In mehreren Zersetzungsphasen, jede auch unter Beteiligung zahlreicher Insektenarten, wird das Holz schließlich zu Mulm, in dem wiederum Insekte und andere Wirbellose leben. In den Tropen sind Termiten ebenso bekannte wie gefürchtete Holzzerstörer.

Die Ausscheidungsprodukte der Insekten – oder von Tieren, die von Insekten leben – sind ihrerseits Substrat für Mikroorganismen, die diese Materie wieder für andere Organismen aufschließen und verfügbar machen. Außerdem sind Insekten selbst Überträger von Mikroorganismen, die wichtige Zersetzer (Destruenten) sind. Im Boden lebende Insekten graben Gänge, schichten Material von unten nach oben um und umgekehrt; so sorgen sie für Durchlüftung, Materialumlagerung und Nährstofftransport im Boden.

... Landschaftsgärtner

Insekten befallen gerne kränkliche Pflanzen und sorgen so für Auslese. Ein geschwächter Baum ist beispielsweise Anziehungspunkt für Borkenkäfer. Infolge des Befalls stirbt er schließlich ab; so entsteht Totholz als Nahrungsquelle für andere Organismen und der Wald wird ausgelichtet, erhält dadurch die Chance, sich zu verjüngen.

Ungesunde Monokulturen werden auf solche Weise umgewandelt, wie es am Beispiel des großen Borkenkäferbefalls im Nationalpark Bayerischer Wald eindrucksvoll belegt ist. Außerdem sind mehr als 3.000 Pflanzenarten bekannt, die auf Verbreitung ihrer Samen (auch) auf Insekten, vorwiegend Ameisen, setzen.[2]

... Dienstleister für den Menschen

Aktivitäten von Insekten kommen in vielfacher Hinsicht auch dem Menschen zugute, und ihre Dienstleistungen sind nicht selten pures Geld wert:

Welternährung: Rund drei Viertel unserer Nutzpflanzen sind ausschließlich oder vornehmlich auf Insektenbestäubung angewiesen (manche Angaben sprechen sogar von 84 Prozent). Der wirtschaftliche Nutzen ist enorm: Bestäuber erzeugen weltweit Nahrungsmittel im Wert von mindestens 153 Milliarden Euro. In Deutschland ist die Honigbiene nach Rindern und Schweinen das ökonomisch drittwichtigste Nutztier.

Angesichts der ständig wachsenden Weltbevölkerung werden Insekten als wichtiges Nahrungsmittel der Zukunft propagiert. Sie sind äußerst proteinreich, enthalten viele Vitamine und Mineralien, sind besser verträglich als Fleisch und lassen sich auch viel kostengünstiger und platzsparender produzieren.

Produktion von Naturstoffen: Bienen und bestimmte Schmetterlinge werden schon seit Alters her als Nutztiere gehalten. Erstere produzieren (neben Honig) Wachs und Propolis. Naturseide gewinnt man aus den Kokons des Seidenspinners (und einiger anderer Spinnerarten). Aus Ausscheidungen der Lackschildlaus (Kerria lacca) werden Schellack und Färberlack gewonnen, der Farbstoff Karmin – als Lebensmittelfarbe E 120 unter anderem in roten Lippenstiften enthalten – wird aus bestimmten Schildläusen extrahiert.

Forensik: Insekten dienen sogar als Hilfssheriffs bei ungeklärten Todesfällen. Die Besiedelung von Leichen erfolgt durch unterschiedliche Arten zu verschiedenen Zeitpunkten; Abfolge und Entwicklungszustand ihrer Jugendstadien geben Auskunft über die Leichenliegezeit. Sind Arten darunter, die am Ort des Leichenfunds nicht vorkommen, kann dies hilfreich sein für die Eingrenzung desjenigen Orts, an dem der Tod eintrat. Toxikologische Analysen der Insekten liefern gegebenenfalls Informationen über den Gebrauch von Medikamenten, Drogen und Giften, auch wenn der Leichnam selbst schon stark zersetzt ist.

Mehr lesen: Biodiversitätsverlust – Lesetipps zu Ursachen, Folgen und mehr

Biologische Schädlingsbekämpfung: Insekten sind oft sehr spezifisch in ihrer Futterwahl. Auf diese Weise helfen sie, Bestände sogenannter Unkräuter in Schach zu halten. Ein gutes Beispiel ist die aus Amerika eingeschleppte Ambrosia-Pflanze (Ambrosia artemisifolia), die sich bei uns mangels Feinden rapide ausbreitet und aufgrund ihres allergenen Potenzials ein zunehmendes Problem in Europa darstellt. In Amerika lebt unter anderem der Blattkäfer Ophraella communa von ihr; dieser ist inzwischen ebenfalls in Europa eingeschleppt – und man hat in Norditalien und der Schweiz beobachtet, dass die Ambrosia durch den Befall mit dem Blattkäfer merkbar zurückgedrängt wird.[3]

Räuberische oder parasitischen Insekten werden sehr erfolgreich bei der biologischen Schädlingsbekämpfung eingesetzt. Schlupfwespen befallen zum Teil hochspezifisch andere Wirte, Marienkäfer und Florfliegen haben räuberische Larven, die unter anderem Blattläuse und andere Schadinsekten fressen.

Medizin und Pharmakologie: Auch wenn es unappetitlich klingt, ist es doch nutzbringend: Lebende Schmeißfliegenmaden können sehr effektiv nekrotisches Gewebe entfernen und werden so erfolgreich zur Remission schlecht heilender Wunden eingesetzt; nebenbei haben sie auch noch antibakterielle Eigenschaften. Überhaupt ist man erst in neuerer Zeit darauf aufmerksam geworden, dass Insekten eine Quelle medizinisch interessanter Wirkstoffe sein können: Antibakterielle, antivirale, entzündungshemmende, krebshemmende Eigenschaften wurden bereits entdeckt und sind Gegenstand der aktuellen Forschung.

Forschung: Insektenbiotechnologie ist ein noch junger Forschungsbereich mit einem gewaltigen Potenzial. Möglicherweise können wir von Insekten lernen, mit Krankheitserregern fertig zu werden, gegen die wir bisher kein Heilmittel haben. Der Asiatische Marienkäfer (Harmonia axyridis) hat zum Beispiel ein robustes Immunsystem, das die Humanmedizin manches lehren könnte. Die genetische Forschung wäre ohne Insekten bei Weitem nicht auf dem Stand von heute. Die Fruchtfliege (Drosophila melanogaster) ist ein nicht wegzudenkender Modellorganismus, dem wir unter anderem die Entschlüsselung des genetischen Codes verdanken.

Chemische Kriegsführung – zu unserem Nutzen: Haben Ihnen Kräutertees, Pflanzenextrakte, Kiefernnadel- und Minzöl schon bei Kopfschmerzen und Erkältungen geholfen? Dann sollten Sie sich dafür nicht nur bei den Pflanzen bedanken, sondern auch bei den Insekten. Denn viele der sogenannten sekundären Inhaltsstoffe, die für uns wohltuend oder gar heilend sind, haben die Pflanzen nicht einfach aus »Jux und Dollerei« erfunden; sie sind vielmehr Ergebnisse eines erbitterten chemischen Abwehrkampfes, den sie gegen Insekten führen.

Viele Insekten sind Pflanzenfresser, und die Pflanzen wiederum versuchen, mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln zu vermeiden, gefressen zu werden. Bestimmte chemische Inhaltsstoffe und klebriges Harz sind solche Abwehrwaffen, entwickelt und entstanden infolge eines Wettrüstens, das schon so lange andauert, wie es Pflanzen und Pflanzen fressende Tiere gibt. Im Verhältnis von Pflanzen und Insekten gibt es also nicht nur die »romantische Liebesbeziehung« zwischen Biene und Blume, sondern auch eine dunkle Seite. Und wenn sich zwei streiten, freut sich bekanntlich der Dritte – in diesem Fall Tiere und Menschen, die die Pflanzenapotheke nutzen.

[1] Fincher (1981): J. Georgia Ent. Soc. 16: 316-333.

[2] Gorb & Gorb (2003): Seed Disposal by Ants in a Deciduous Forest Ecosystem.

[3] Müller-Schärer et al. (2014): Weed Research 54: 109-119.

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Was es bedeutet und was wir jetzt tun müssen

Die »Krefeld-Studie« hat gezeigt: Das Artensterben ist auch bei uns angekommen. Wenn bislang irgendwo in Afrika eine unbekannte Art verschwand, konnte man dazu vielleicht noch mit den Schultern zucken.   

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